Der 20. Juli 1942: Das Ende der jüdischen Geschichte in Wuppertal

Beitrag für die Westdeutsche Zeitung am 20. Juli 2024

Hier finden Sie den vollständigen Text des gekürzten Beitrags in der Ausgabe der Westdeutschen Zeitung vom 20.7.2014:

 

Der 20. Juli 1942: Das Ende der jüdischen Geschichte in Wuppertal

von Dr. Ulrike Schrader

 

„Schade, dat dat nich geklappt hat!“ So rief ein Arbeitskollege des Wuppertalers Herbert Cohnen am 21. Juli 1944 quer durch die Straßenbahn. Und brachte damit nicht nur sich in allergrößte Gefahr. Denn gemeint war das gescheiterte Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944. Es war reines Glück, dass diese Unvorsichtigkeit keine schlimmen Folgen hatte. Und überhaupt war es reines Glück, dass Herbert Cohnen die nationalsozialistische Judenverfolgung überlebte. Seine Mutter war evangelisch, und das bot ihm, seinem jüdischen Vater und seinem Bruder zumindest vorerst einen gewissen Schutz.

 

Von den Wuppertaler Juden, die solche Verwandtschaft nicht hatten, gab es im Sommer 1944 längst niemanden mehr in Wuppertal. Entweder war es ihnen gelungen, ins Ausland zu flüchten in der Hoffnung, im Exilland sicher zu sein und einen Neuanfang machen zu können. Oder sie waren mit vier großen Transportzügen deportiert worden, in die Ghettos von Lodz, Minsk, Izbica und, am 20. Juli 1942, in das Ghetto Theresienstadt. Lebten im Jahr 1925 noch 3.102 Jüdinnen und Juden bei einer Gesamtbevölkerung von 405.515, so waren es im Jahr 1933 nur noch 2.471, und nach der Volkszählung vom 17. Mai 1939 waren es noch 1.093. Seit Oktober 1941 waren über 460 jüdische Wuppertalerinnen und Wuppertaler deportiert worden, und nie wieder hatten Freunde und Verwandte etwas von ihnen gehört.

 

Es war Kern und Triebfeder der nationalsozialistischen Ideologie und Politik, alle Juden und Jüdinnen, jeden und jede einzelne, zu töten, ihr Recht auf Leben zu leugnen und die Erinnerung an sie restlos zu tilgen. Nichts sollte von ihnen bleiben.

 

Für Wuppertal kann der „20. Juli“ nie nur der Gedenktag für die Opfer des Attentatsversuchs auf den Führer Nazi-Deutschlands sein, nie nur Anlass, um über den vergeblichen Mut der Offiziere zu sprechen. Der 20. Juli ist in Wuppertal zunächst der Tag, der das Ende seiner jüdischen Geschichte bedeutet.

 

Am 12. Juli 1942 schrieb das jüdische Büro den verbliebenen Gemeindemitgliedern:

 

Im Auftrag der Geheimen Staatspolizei, Staatspolizeileitstelle Düsseldorf, Aussendienststelle Wuppertal, teilen wir Ihnen mit, dass sämtliche Juden des Bezirks, soweit sie nicht in Mischehe leben, zu einem Transport nach Theresienstadt eingeteilt sind. Der Transport für den Bezirk Wuppertal geht ab am Montag, den 20. Juli 1942, ab Bahnhof Elberfeld-Steinbeck. Die Teilnehmer versammeln sich am 20.7.42, vormittags 8.30 Uhr auf dem Vorplatz des Bahnhofs Steinbeck (nicht auf dem Bahnsteig), sie müssen zu diesem Zeitpunkt dort eingetroffen sein.

 

Es folgten detaillierte Angaben, was an Gepäck mitgenommen werden durfte, wie die Inventarliste über den zurückbleibenden Hausrat anzufertigen, wo Führerscheine abzugeben waren und wie hoch die „Spende“ sein sollte, die man vor der Abfahrt entrichten musste. Damit sollten die Fahrtkosten an die Deutsche Reichsbahn beglichen werden. Die Wohnungen sollten aufgeräumt und besenrein hinterlassen, die Türen nicht abgeschlossen und die Wohnungsschlüssel abgegeben werden. Was werden die Menschen nach der Lektüre dieses dreiseitigen Schreibens gedacht haben?

 

Jacob Kaufmann aus der Gartenstraße 24 schrieb an seine Kinder:

 

„Meine lieben, lieben Kinder!

Nunmehr ist auch uns das Judenschicksal auferlegt. Heute ist der 14. July, haben wir noch sechs Tage, müssen unser gemütliches Heim verlassen und die Fahrt in das Ungewisse machen. Wir kommen nach Theresienstadt in Böhmen. Nie habe ich geglaubt, dass Menschen in meinem Alter den Wanderstab noch nehmen müssen aber selbst Leute im höchsten Alter müssen noch mit. Jeder von uns darf an Gepäck 25 Kg mitnehmen, Betten, Möbel usw. alles müssen wir hierlassen. An Geld dürfen wir keinen Pfennig mitnehmen. Es ist ein schweres Los, welches uns betroffen hat. Wir wollen nur hoffen, dass wir gesund bleiben und mit Gottes Hilfe auch diese traurige Zeit überstehen. Ich habe das feste Gottvertrauen, dass für uns auch mal wieder bessere Tage kommen. Unser sehnlichster Wunsch ist doch allein noch zu Euch, meine lieben Kinder, zu kommen, und den kleinen Jonny an unser Herz zu drücken. Mit Gottes Hilfe geht dieser Wunsch in Erfüllung und kann uns der feste Glauben an ein Wiedersehen nur gesund und aufrecht erhalten.“

 

Auch andere schrieben Abschiedsbriefe, nämlich bevor sie sich das Leben nahmen, um diesen Transport nicht ertragen zu müssen. Zum Beispiel Minna Lehmann aus der damaligen Bleichstraße und Wilhelm Magnescheff aus der damaligen „Adolf-Hitler-Straße“ – die mit über 600 Hausnummern wohl längste Straße des Wuppertals – heute die „B 7“. Paula Dreyfus aus der Kirschbaumstraße schrieb an ihre Schwester und deren Mann: „Liebe Hedwig, lieber Georg! Da ich die Kraft nicht mehr habe, dieses Leben weiter zu führen, so mache ich diesem diese Nacht durch Freitod ein Ende. Es tut mir sehr leid, Euch noch mehr Aufregung bereiten zu müssen, aber es geht nicht anders. Nehmt meinen herzlichen Dank für die Jahre lange Betreuung und seid herzlich gegrüßt von Eurer Paula.“

 

247 Wuppertaler Juden und Jüdinnen wurden heute vor 82 Jahren zunächst nach Düsseldorf transportiert, dazu noch sieben Personen aus Solingen, 14 aus Remscheid, je eine aus Velbert, Neviges und Heiligenhaus. Von Düsseldorf fuhr am nächsten Tag um 10.17 Uhr ein neu zusammengestellter großer Deportationszug mit insgesamt 966 Personen aus Düsseldorf, Essen, Oberhausen und Wuppertal nach Theresienstadt (Terezín) bei Prag.

 

Emma van Geldern, geb. Siegel, aus der Großen Flurstraße, 83 Jahre alt, überlebte nach ihrer Ankunft dort nur noch wenige Tage. Sie starb schon eine Woche später am 29. Juli. Überhaupt waren sehr viele ältere Menschen in diesem Transport: 36 von ihnen waren 80 Jahre alt und älter. Die älteste war Natalie Stern mit 90 Jahren. Sie lebte im Ghetto nur noch bis September.

 

In der Zeit von September 1942 bis zum 28. Oktober 1944 fuhren große Transporte mit Ghetto-Insassen zum Vernichtungslager Treblinka, wo sie sofort ermordet wurden. Ab 1944 brachte man die Menschen vor allem in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Auf diese Weise wurde unter anderen das vormals in Barmen hochgeschätzte Ehepaar Adele und Kurt Orgler getötet.

 

Während aus den Transporten aus Wuppertal nach Łódź, Minsk und Izbica niemand überlebte, hatten wenige der Menschen, die am 20. Juli 1942 nach Theresienstadt gekommen waren, ungeplantes Glück: Adolf Rubens, Wilhelmine Leven, Cäcilie Popielarz, Mathilde Walter, Olga Weinschenk und Helene Wertheim. Auch Wuppertaler, die aus anderen Städten ins Ghetto verschleppt worden waren, haben wie durch ein Wunder überlebt, z.B. Ursula Metzger, Selma Hartmann und der spätere langjährige Vorsitzende der Jüdischen Kultusgemeinde Wuppertal, Heinz Bleicher.

Als absolute Ausnahme ist die Überlebensgeschichte von Antonie Römer aus der Elberfelder Bandstraße zu bewerten. Weil ihr Sohn mit der Hilfe des Wuppertaler Polizeiinspektors Dreiling unermüdlich um die Freilassung seiner Mutter gekämpft hatte, indem sie deren Abstammungsnachweise perfekt gefälscht hatten, wurde Antonie Römer im Mai 1944 als „Arierin“ entlassen. Eine solche „vorzeitige Entlassung“ ist unter den über 42.000 deutschen Häftlingen in Theresienstadt überhaupt nur in drei Fällen nachgewiesen.

 

Aber zu überleben, war auch in dem lange als „Musterghetto“ bezeichneten Lager nicht vorgesehen. Zwar ließen die Nationalsozialisten die Gründung kultureller und sozialer Einrichtungen zu, behielten diese aber unter strengster Kontrolle und nutzen sie ausschließlich zu Propagandazwecken. In Wirklichkeit waren auch die Juden im Ghetto Theresienstadt zur Vernichtung bestimmt.

 

Einer der ersten US-amerikanischen Soldaten, die das in Auflösung befindliche Ghetto Theresienstadt betraten, war der Wuppertaler Hans Rudolph Wahl, der sich jetzt John R. Wahl nannte. Seine Eltern waren am 20. Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert worden, und nun, im Juni 1945, hoffte er, sie noch lebend vorzufinden:

 

Die Einfahrt nach Theresienstadt war unglaublich. Da wohl viele Gefangene glaubten, dass die US-Armee gekommen sei, so liefen Hunderte neben meinem Jeep bis nach Hauptstraße 15, die letzte Adresse von unseren Eltern. Es war eine große Steinkaserne, und es wurde mir aus einem Buch gezeigt, dass unser Vater dort gestorben und unsere Mutter nach Auschwitz transportiert war. Ich wurde auf ein Zimmer gebracht, wo unsere Mutter mit 6 Damen gelebt hatte. Da ich natürlich in Uniform war und Pistole und Carabiner trug, glaubten die armen Frauen, dass sie getötet würden, aber als ich mich zu erkennen gab, haben sie mir die Hand küssen wollen, und es war eine erschütternde Situation, schlimmer als in der Kampfzeit.

 

Die Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal ist den Opfern der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Wuppertal gewidmet. Deshalb bemühen sich die Mitarbeitenden seit vielen Jahren in zuweilen schwieriger und immer deprimierender Recherchearbeit, die Lebenswege der Menschen zu rekonstruieren. Dabei helfen die Vorarbeiten, die andere Forscher schon geleistet haben, aber vor allem die Gespräche und Begegnungen mit den Nachfahrinnen und Nachfahren. Wir zählen aktuell 1443 Namen von Menschen, deren Ermordung kein Widerstand aufgehalten hat, und ganz bestimmt nicht der Attentatsversuch der Offiziere im Sommer 1944.

Die Lehrerin Hedwig Israel, deportiert am 20. Juli 1942 nach Theresienstadt (Archiv Begegnungsstätte Alte Synagoge)