Auslöschung als Ziel
Ansprache von Dr. Ulrike Schrader zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus
Ansprache Dr. Ulrike Schrader
Samstag, 26.1.2025, Bandwirkerplatz Wuppertal-Ronsdorf
Wir versammeln uns hier anlässlich des offiziellen und internationalen „Gedenktags für die Opfer des Nationalsozialismus“. Heute der Opfer des Nationalsozialismus zu gedenken, stellt uns vor eine besondere Herausforderung, wie eigentlich in jedem Jahr. Aber in diesem und auch schon im vergangenen Jahr spüren wir die Schwere dieser Herausforderung viel krasser. Das hat mit dem 7. Oktober 2023 zu tun, mit dem Massaker, das judenhassende Terroristen im Süden Israels an feiernden Israelis und schlafenden Dorfbewohnern verübten. Massaker, die sie filmten und ins Netz stellten. Filme, die unverzüglich die arabische Welt, auch die in Deutschland, in Triumph und Euphorie versetzten.
Ruth Klüger sagte einmal: „Erinnerung ist keine gemütliche, badewasserlaue Angelegenheit, sondern ist eigentlich immer ein Graus, eine Zumutung.“ Erinnerung sei keine „Fähigkeit, keine Tugend“. Es sei dem gesunden Menschen doch gar nicht gegeben, sich nicht zu erinnern: „Erinnern ist kein Verdienst, wie ja auch das Weiterleben kein besonderes Verdienst ist. Das Erlöschen der Erinnerung ist eine Krankheitserscheinung, kein Normalzustand. Die Frage nach dem Erinnern ist eine Frage des Wie, nicht des Ob.“
Wenn wir uns also heute erinnern, wenn wir der Opfer gedenken, dann ist das insofern ungemütlich, weil wir das nicht ehrlicherweise hinbekommen, wenn wir nicht an den Judenhass von heute denken. Wenn wir nicht im Blick haben, dass es auch heute Menschen gibt, die Juden die Existenzberechtigung absprechen. Wir wissen alle, in welchem Tempo die Zahlen judenfeindlicher Angriffe nach dem 7. Oktober 2023 in die Höhe geschossen sind, wir haben die Rufe der Demonstranten gehört, die sich „pro-Palästina“ nennen, aber in Wirklichkeit anti-Israel sind.
Wer Schulkinder hat, weiß, was an den Schulen los war und auch heute noch ist. Eltern wissen, dass es eher ungünstig wäre, wenn ein jüdischer Junge oder ein jüdisches Mädchen seine Religion in der Schule offen sagt oder lebt. Es wäre gefährlich.
Wir wissen das, und trotzdem erlebe ich, sogar im Bekanntenkreis, dass Menschen sich fragen, warum die Juden ausgerechnet in Palästina leben müssen. Warum sie den „Palästinensern“ ihr angestammtes Land streitig machen. Ich erlebe, wie Unwissenheit und Ignoranz, wie mangelndes Interesse die Diskussion beherrschen, und ich erlebe vor allem: mangelnde Empathie. Ich erlebe, dass man in Deutschland größere Sorge hat, als Antisemit zu gelten, als tatsächlich einer zu sein.
Und etwas kommt hinzu: Angesichts des aktuellen Leids in der Welt, das so viele Menschen ertragen müssen und von dem wir durch die Medien erfahren – also die schrecklichen Kriege, der entwürdigende Hunger, das empörende Unrecht –, angesichts des aktuellen Leids in der Welt behaupten Manche, dass das alles „genauso schlimm“ sei wie der Holocaust. „Geschichte wiederholt sich“, wird dann gesagt. Manche setzen die heutigen Verfolgungen und Diskriminierungen mit denen des Nationalsozialismus gleich. Wer das tut, findet offensichtlich keine Worte, um den eigenen persönlichen Gefühlen Ausdruck zu geben, und behilft sich mit den krassesten Vergleichen, die allgemein bekannt sind, und das sind dann eben der „Holocaust“, das „Konzentrationslager“, das „Warschauer Ghetto“, der „Genozid“.
Was ich dabei bedenklich finde, ist nicht nur die Unfähigkeit, Worte für das aktuelle Leid zu finden und Worte für die eigenen Gefühle. Was ich aber noch bedenklicher finde, ist die Unkenntnis davon, was der Holocaust eigentlich war und bedeutete:
Die Nationalsozialisten planten, alle rund 13 Millionen Jüdinnen und Juden auf dieser Erde zu ermorden, nur weil sie jüdisch waren und aus keinem anderen Grund. Diese Zahl finden Sie auf einer Liste, die im Internet als Bild zu sehen ist, wenn Sie das Stichwort „Wannseekonferenz“ googeln. Als diese berüchtigte Wannseekonferenz stattfand, am 20. Januar 1942, waren schon mehrere Hunderttausend jüdische Menschen getötet worden: Seit Juni 1941 hatten Angehörige der SS, der Polizei, der Wehrmacht und der Einsatzgruppen in der Ukraine, in Weißrussland und in den baltischen Staaten Tausende jüdische Babies, Kinder, Großväter und Großmütter, Männer und Frauen erschossen. Die Menschen mussten sich am Rand von tiefen Gruben aufstellen, und wenn sie dann von den Salven aus Maschinengewehren getroffen wurden, stürzten sie hinab. So fing das Töten an und steigerte sich in bis dahin unvorstellbare Dimensionen.
Im Herbst 1941 beschloss die nationalsozialistische Führung, auch die Juden aus dem Deutschen Reich in den Osten zu deportieren. Auch aus Wuppertal: Am Sonntag, den 26. Oktober 1941 mussten sich 200 jüdische Männer, Frauen und Kinder am Steinbecker Bahnhof einfinden und wurden in die polnische Stadt Lodz deportiert, wo die Deutschen schon längst ein Ghetto für die jüdischen Bewohner eingerichtet hatten.
In allen Ländern, die die deutsche Wehrmacht mittlerweile besetzt hatte, suchten und jagten die Deutschen die Juden. Dabei wurden sie oft von willigen Kollaborateuren und willigen Helfern unterstützt. Niemand sollte entkommen. Noch im hintersten Winkel Europas, von Griechenland bis Norwegen, von der Mittelmeerküste bis zum Schwarzen Meer – kein jüdischer Mensch sollte am Leben bleiben. Das hatte es noch nie in der Geschichte gegeben, und so etwas hat es auch danach nicht wieder gegeben. Das nennen wir „präzedenzlos“. Der Holocaust war ein präzedenzloses Verbrechen, ein Genozid ohne Muster oder Vorbild.
So etwas ist seitdem nie wieder geschehen. Wer aber die Charta der Hamas von 1987 gelesen hat, und wer zur Kenntnis genommen hat, was genau sich am 7. Oktober 2023 im Süden Israels zugetragen hat, der weiß, dass dieses Verbrechen wieder geschehen kann, weil es Menschen gibt, die kein jüdisches Leben akzeptieren. Die kein jüdisches Existenzrecht akzeptieren, weder als Person noch als Staat. Juden und Jüdinnen in der ganzen Welt wissen seit diesem Oktober 2023, dass sie Feinde haben, die nichts anderes als ihre Vernichtung wollen, und die das sogar für einen religiösen Auftrag halten.
Wenn Gedenken ehrlich sein soll, so müssen wir verstehen, in welcher existenziellen Gefahr alle jüdischen Menschen damals schwebten, die im Machtbereich der Nationalsozialisten lebten. Und das war praktisch in ganz Europa und auch in Nordafrika. Zweitens sollten wir uns bewusst machen, dass die existentielle Gefahr für jüdische Menschen nie beseitigt war, auch nicht nach dem Ende des Krieges. Zwar wird Judenfeindschaft seitdem bei uns geächtet und die Holocaust-Leugnung steht unter Strafe, aber das hat Jüdinnen und Juden in Deutschland vor Angriffen nie geschützt.
Und am 7. Oktober 2023 ist offen ausgebrochen, was man auch als „eliminatorischen Antisemitismus“ bezeichnen kann, als den Wunsch, auszulöschen. Pure Gewalt, brutale Vergewaltigung, Verstümmelung und hasserfüllter Mord.
Das müssen wir zusammendenken: Was der Holocaust war und welche Gefahren heute drohen. Dazu zu schweigen, macht uns genauso schuldig, wie die Geschichte nicht zu kennen und Fakten zu verdrehen oder zu ignorieren. Gedenken ist keine Wiederholung, ist kein Ritual, sondern die Begegnung unserer Gefühle mit dem Denken und der Vernunft.
